Kapitel 1 – Abschnitt 2

Aber das, was ich dort sah, das brachte mich komplett aus der Fassung. Einen kurzen Moment starrte ich nur auf die über zugerichtete Leiche. Es mögen 3 bis 4 Sekunden gewesen sein, bis mein Gehirn die Arbeit wieder aufnahm, aber für mich fühlte es sich wie eine Ewigkeit an. Diesen Anblick wollte ich Angie ersparen oder sie zumindest darauf vorbereiten. „Angie“ sagte ich mit ruhiger Stimme, „hier unten haben wir keinen Empfang und für diesen Tatort brauchen wir dringend den Metzger und die SpuSi.“. Mit zunehmendem Bewusstsein wurde mir klar, das sie mit diesem Satz vermutlich in dieser Situation nichts anfangen kann. „Hanno Metzger meine ich natürlich, unser Verantwortlicher Rechtsmediziner. Den kennst du vermutlich gar nicht, der arbeitet in Dortmund. Den brauchen wir normalerweise hier im Kreis auch nicht. Und fordere bitte auch über Harry gleich die Spurensicherung an. Im Wagen findest du außerdem Absperrband, bitte sichere den Tatort ab Kellereingang ab. Außerdem will ich nachher den Hausmeister, Frau Müller und jeden sprechen der mit diesem verdammten Fall was zu tun hat.“ Ein leises Aufatmen von Angie signalisierte mir das sie mehr als glücklich war dieser Situation zu entkommen. Und mir signalisierte das ich mich nun ganz alleine mit der Situation auseinandersetzen musste.

Ich zog meine sterilen Handschuhe an und dachte mir das ich hier möglichst nicht berühren durfte. Vielleicht war Hanno in der Lage aus dieser Sauerei einige Rückschlüsse zu ziehen. Hanno war ein Freund von mir, den ich vor vielen Jahren auf einer Fortbildung kennengelernt habe. Hanno stand aus Aurich und die Nähe zur Nordsee sah man seiner Ruhe und seinem Humor an. Ich habe mich immer gefragt, ob man mit dem Nachnamen Metzger nicht eigentlich ein Berufsverbot als Arzt bekommen sollte und musste kurz über diesen Gedanken hinweg grinsen. Leider holte mich der bestialische Geruch und vor allem die Details des Mordes sofort wieder in die Realität zurück. Über diese Art eines Mordes hatte ich mal in einer Netflix Serie was gesehen und der spielte in der Zeit der Wikinger. Noch nie hatte ich solch etwas skurriles in der Realität gesehen. Bei dem Opfer wurde ein sogenannter Blutadler durchgeführt. Laut meines Serienwissens werden hierbei dem lebenden Opfer der Rücken aufgeschnitten, die Rippen beidseitig von der Wirbelsäule getrennt und – wie Adlerschwingen – zur Seite geklappt. Nichts in meiner Ausbildung hat mich auf so etwas vorbereitet und ich musste mich dazu zwingen meine Augen wieder zu öffnen. Der Geist braucht eine ganze Weile so etwas zu akzeptieren und daher hatte ich wohl die Augen geschlossen. Es half alles nichts, wenn ich diesem armen Kerl helfen wollte, dann musste ich mich jetzt zusammenreißen. Ich nahm meinen Block aus der Jackentasche und notierte mir alles an was ich mich seit meinem Eintreffen erkennen konnte. Es gibt keine zweite Chance für einen ersten Eindruck und daher wäre jetzt jedes Detail für später wichtig.

Beide Türen waren offen beim Eintreffen und die Notfallbeleuchtung war eingeschaltet, schrieb ich in meinen Block. Dieser Geruch nach Verwesung war sehr durchdringend, aber ich versuchte mich zu beruhigen und zu überlegen, was ich noch gerochen hatte. Der Modergeruch eines verlassenen Kellergewölbes, die Luft war stickig, klar hier war ja auch schon ewig keiner mehr drin. Überall Staub, auch das war zu erwarten. Außerdem roch es nach Kot und Urin, ein weiterer Hinweis dass das Opfer viele Qualen durchleiden musste. Hatte Angie Handschuhe an, als sie sich übergab? Der Hausmeister hatte vermutlich keine an! Ich musste dringend daran denken das nachher zu klären und unterstrich es in meinem Block. Wie lange mochte das Opfer wohl tot sein fragte ich mich. Hier unten war es wirklich bitterlich kalt, so dass ich vermutete das der Mord schon ein paar Tage her war. Hanno wird mir dazu sicherlich mehr sagen können. Wenn der Mord hier verübt wurde, dann müssten sich noch mindestens zwei weitere Personen hier aufgehalten haben. Mein Blick streifte vom OP-Tisch zu den Regalen und zum Boden. Irgendetwas irritierte mich hier ganz gewaltig, aber ich konnte noch nicht sagen, was es genau ist. Einige Dokumente lagen auf dem Boden, einige Reagenzien Gläser lagen zerbrochen auf dem Boden und man sah keinen einzigen Fußabdruck … mal abgesehen von denen von Angie und mir. Wir zur Hölle sind die hier reingekommen und wie wieder raus. Dieser Fall war wirklich verdammt merkwürdig. Schlagartig wurde mir klar, dass ich hier einfach mit meinen Straßenschuhen reinspaziert bin und nicht meine Schuhüberzieher benutzt habe. Das gibt Mecker, erst von der SpuSi und dann von Harry, nahm ich zerknirscht zur Kenntnis. Ich habe mich echt wie der letzte Anfänger benommen, aber das war ja auch kein Wunder, wenn ansonsten das spannendste meines Berufsalltag, wenn wir zu einem natürlichen Tod ins Seniorenheim gerufen wurden. Ich holte meine  Überzieher aus der Notfalltasche, zumindest hatte ich diese noch geistesgegenwärtig mit aus dem Auto genommen. Auf meinem Block fertigte ich eine Skizze an, welchen Weg Angie und ich gegangen sind, das würde es zumindest der SpuSi erleichtern. In der Notfalltasche war auch eine Spiegelreflexkamera, die ich nun herausholte und einschaltete. Es passierte aber nichts, der Akku war wohl leer. Wie gesagt sind wir hier auf so etwas nicht vorbereitet. Also holte ich mein privates Handy aus der Tasche. Ein Push Nachricht erinnerte mich daran, dass ich beim Pokemon Trading Card Game noch ein Pack öffnen konnte. Irgendwie ist das jetzt etwas Pietätslos, aber ey, unser Opfer wird es wohl nicht stören. Und mich brachte es zumindest kurzfristig auf andere Gedanken. Das Pack war gar nicht schlecht, stellte ich mit einem kleinen Lächeln fest. Dann aber öffnete ich meine Kamera App und machte das erste Foto. Dieses Vorgehen ist sicherlich mit keiner Datenschutzrichtlinie vereinbar, aber ich wollte diesen unveränderten Ersteindruck unbedingt festhalten. Ich fotografierte das Opfer und schrieb Männlich, Anfang 50 in meinen Notizblock. Ich fotografierte die ausgetretenen Körperflüssigkeiten und mir fiel auf, dass das Mordwerkzeug nicht auffindbar war. Er hatte dankenswerterweise eine Hose an und ich prüfte vorsichtig alle Taschen, aber dort war leider kein Portemonnaie oder ein anderer Hinweis auf seine Identität vorhanden. Ich fotografierte ebenfalls den Boden und alle Wände und schlich mich langsam auf demselben Weg zurück, wie ich reingekommen war. Über das erbrochene von Angie machte ich vorsichtshalber einen großen Schritt. Ich schaute mir sehr genau den Boden an und achtete auf Fußspuren. Ich war mir sicher meine zu erkennen, denn das dicke NIKE Profil unter meine Schuhen war im Staub zu erkennen. Angies hatte heute glaube ich Schuhe mit Absätzen an und auch diese konnte ich erkennen. Darüber hinaus fand ich aber nur noch ein weiteres Schuhprofil und das musste zwangsläufig der Hausmeister sein. Ein plötzliches Rascheln trieb mir den Schreck tief in die Knochen und kurz darauf lief eine dicke Ratte an mir vorbei. An der hätte Elmo seine wahre Freude gehabt. Ich selber rügte mich für meine Schreckhaftigkeit und ging auf dem Raum zu aus dem dieses Biest von Ratte gekommen war. In diesem Raum war es unausgesprochen klar, dass sich hier niemand seit Jahrzehnten aufgehalten hatte, mal abgesehen von den Ratten. Der Staub war in einer tiefen Schicht auf dem Boden verteilt und alles war in dem Zimmer noch am dem Ort, wo man es vermutlich vor 80 Jahren oder so verlassen hatte.

Nachdenklich und schockiert ging ich die Stufen wieder nach oben und mit jedem Schritt Richtung Ausgang wurde ich etwas klarer und ruhiger.

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